Johanne Mommsen

Gesangspädagogin

Johanne Mommsen ist Sopranistin und Gesangspädagogin. Sie ist glühende Verfechterin des lebenslangen Lernens und kann sich ein Leben ohne Gesang gar nicht vorstellen.

PV:
​In Ihrer Vita ist zu lesen, dass Sie schon als Kind gerne gesungen und getanzt haben. War das kindliche Lebensfreude oder hat es Ihnen jemand nahegebracht?
JM:
​​Ich war das vierte Kind und die, die sich immer für alles Künstlerische interessiert hat, also Tanzen, Malen, Singen, Musizieren.
PV:
​​​​Wie waren Sie denn als Teenager? Aufsässig oder vernünftig?
JM:
​​​Ich war kein aufsässiger Teenager. Ich habe viel getanzt, denn ich wollte ursprünglich ja Tanz studieren.
PV:
​​​Dann haben Sie Literaturwissenschaften studiert?
JM:
​​
Das Singen war spannend, hat mich froh gemacht und mir Adrenalinschübe besorgt, besonders am Anfang.
​​Ja, es gab so ein paar Umwege. Zuerst wollte ich Tanz studieren, war aber zu spät dran für die Aufnahmeprüfungen an der Folkwangschule. Dann habe ich mich für den Studiengang Musical zum Vortanzen angemeldet, sollte da aber auch Vorsingen, weil die wissen wollten ob ich tanzen und singen. Da habe ich zum ersten mal gedacht, das mit dem Singen könnte auch was für mich sein. Dann dachte ich an Kunstgeschichte, habe aber gemerkt, dass die zunächst eher beschreiben und dass das vielleicht doch nicht so ganz meins ist und habe dann erstmal Literatur studiert. In all der Zeit habe ich aber immer weiter getanzt und angefangen meine Stimme zu entdecken und Gesangsunterricht zu nehmen. Dabei hatte ich das Gefühl, dass mir das Singen noch mehr Möglichkeiten bietet als der Tanz. Das Singen war spannend, hat mich froh gemacht und mir Adrenalinschübe besorgt, besonders am Anfang. Parallel dazu habe ich studiert, was mir recht leicht fiel, aber in der Uni überfiel mich immer eine bleierne Müdigkeit. So merkte ich, dass meine Sehnsucht doch mehr ins Künstlerische ging. Ich hatte von Anfang an einen sehr natürlichen Zugang zu meiner Stimme. Trotzdem habe ich meinen Magister gemacht und mich gleichzeitig auf die Aufnahmeprüfung für Gesang vorbereitet und dann noch Gesang studiert. Das war natürlich spannend.
PV:
​Geworden sind Sie Sopranistin und Gesangspädagogin?
JM:
JA.
PV:
​​​Treten Sie als Sopranistin auch auf?
JM:
​​​​Ja, konzertant, ich singe im Lied- und Oratoriumsbereich, keine Opern.
PV:
​​​Was machen Sie denn lieber? Auftreten oder Unterrichten?
JM:
​​​​Ich glaube, dass Ideal ist, wenn das eine das andere befruchtet.
PV:
​​​Wie geht das?
JM:
​​Der beste Lehrer ist der, der vom Schüler etwas lernt. Durch das selber Singen behalte ich meine Offenheit für den kreativen Prozess. Das kann sich sehr befruchten, es gibt wieder einen freieren Zugang zum Unterrichten.
PV:
​​​Braucht man starke Nerven, wenn man Gesang unterrichtet?
JM:
​​Nein. Mir gibt das Unterrichten ganz viel Energie. Wenn es ideal läuft fühle ich mich nach dem Unterrichten lebendiger als vorher.
PV:
​​​Kommen nicht auch Menschen, die gerne singen können würden, aber keine Stimme haben?
JM:
​​
Der beste Lehrer ist der, der vom Schüler etwas lernt.
​​Natürlich ist nicht jeder dazu geboren Sänger zu werden, aber eine Stimme haben wir alle und meistens ist es nur so, dass wir sie über das Erwachsenwerden, unsere kulturelle Prägung oder unsere Berufstätigkeit verloren haben. Kinder haben einen sehr natürlichen Zugang zu Ihrer Stimme. Manche Menschen haben den nicht bekommen, weil ihre Eltern vielleicht wenig oder gar nicht mit ihnen gesungen haben und sie so versäumt haben, das Hören und das Umsetzen von Tönen in Form von Muskelspannung auf der Stimmebene in der frühkindlichen Entwicklungsphase zu lernen. Aber das lässt sich immer nachholen.
PV:
​​Egal in welchem Alter?
JM:
​​Egal.
PV:
​​​Also jeder kann singen lernen und kann auch jeder berühmt werden?
JM:
​​​Naja. Ich glaube dass ein Berufssänger, der an großen Bühnen singt, sehr starke Nerven, einen freien Zugang zu seiner inneren Musikalität, eine sehr gute Ich-Stärke, sehr gutes Standing, viel Glück, die richtigen Begleiter, die richtigen Dirigenten, die einen das richtige Repertoire singen lassen, braucht, damit er oder sie wachsen kann. Heutzutage ist das Geschäft sehr schnell.
PV:
​​​Jetzt hört man ja von vielen Menschen, die zum Beispiel im Chor singen, wie glücklich sie das Singen macht. Würden Sie sagen, dass wir eine friedlichere Welt hätten, wenn mehr Menschen singen würden?
JM:
​​Ja, ich sage das ja auch auf meiner Website durch das Zitat von Yehudi Menuhin. Ich glaube gemeinsames Singen und Musizieren fördert den Sinn für Gemeinschaft und je mehr Sinn für Gemeinschaft da ist, desto besser.
PV:
​​​​Desto größer die Chance?
JM:
Wenn es ideal läuft fühle ich mich nach dem Unterrichten lebendiger als vorher.
​Die Chance für ein friedliches Zusammensein und innere Freude. Singen bringt mich ja in den Kontakt zu mir und auch zu meiner inneren Freude und das stärkt mich. Damit kann ich in die Welt gehen und das weitergeben. Durch gemeinsames Musizieren entsteht eine große Nähe, das ist eine wunderbare Erfahrung. Ob ich jetzt mit anderen gemeinsam singe oder ob ich mit einem Pianisten, einer Pianistin arbeite oder vielleicht, wie in meinem letzten Konzert, gemeinsam mit einer Geigerin und einer Organistin musiziere, ist egal. Man kennt sich manchmal nicht, man trifft sich, man fängt an zu proben, manchmal schwingt es, manchmal schwingt es nicht, aber wenn es dann schwingt, dann entsteht eine Nähe, die ich gar nicht beschreiben kann.
PV:
​​​​Ist die verbunden mit der Bereitschaft sich aufeinander einzulassen?
JM:
​​Genau, ich glaube physiologisch gehen dann bestimmte Gehirnströme zusammen, wenn gemeinsam musiziert wird. Aber es gibt natürlich auch Menschen, die musizieren ganz wunderbar und sind dennoch die größten Egoisten.
PV:
​​​Reicht eine gute Stimme und eine gute Ausbildung, um im klassischen Bereich erfolgreich zu sein? Oder braucht man noch etwas Anderes?
JM:
Gemeinsames Singen und Musizieren fördert den Sinn für Gemeinschaft.
​Also ich glaube, der Weg des Singens verändert Dich und vermag Dich immer mehr zu dem zu bringen der Du wirklich bist. Die Frage ist doch, geht es beim Singen um Erfolg oder geht es um die Freude am Musizieren und darum, die anderen daran teilhaben zu lassen und zu erfreuen?
PV:
​​​Es gibt also zwei Wege?
JM:
​​Also, es gibt Sänger, die mich wahnsinnig berühren, die diese Natürlichkeit haben und diese besondere Verbindung zur Musik. Es gibt aber auch Sänger, deren Persönlichkeit sehr faszinierend ist. Die sind vielleicht unheimlich virtuos, können aber auch eine bestimmte Kälte haben in ihrer technischen Perfektion, so dass sie mich nicht so berühren. Beides ist spannend. Es gibt ja sehr viele verschiedene Sängerpersönlichkeiten. Sehr schwer, das auf einen Nenner zu bringen.
PV:
​​​​Also es gibt auch da kein Rezept?
JM:
​Nein. Ich glaube, es gibt sehr unterschiedliche Stimmen und Sänger-persönlichkeiten. Mindestens so viele Sängerpersönlichkeiten, wie es Stimm-fächer in der Oper gibt.
PV:
​​​​Fühlen Sie sich erfolgreich?
JM:
​​​Ich könnte mehr Konzerte haben und das wünsche ich mir auch. Im Moment unterrichte ich mehr und singe weniger, beides hätte ich gerne in Balance. Wenn die da ist bin ich erfolgreich, ja.
PV:
​​​Gibt es bei Ihnen eine Trennung zwischen Beruf und privatem Leben oder können Sie das gar nicht trennen?
JM:
​​​​Natürlich ist meine Beziehung zu einem Schüler beruflich, auch wenn sie sehr persönlich ist. Wenn ich an der Stimme arbeite, dann arbeite ich immer mit dem ganzen Menschen. Das ist vielleicht noch stärker als im Instrumen-talunterricht, weil das Instrument ja außerhalb von mir ist und die Stimme in mir und sie ist mit allem verbunden, mit meinem Nervensystem, meinen Gefühlen, meinem Atem, meinem ganzen Sein und dadurch eröffnet sich ein großes Potenzial auch andere Prozesse anzustoßen.
PV:
​​​Zum Beispiel?
JM:
​​Zum Beispiel mehr ins Selbstbewusstsein zu gehen oder ins Selbstvertrauen. In eine stärkere Stimmidentität. Auf dem Weg dahin kann ich den Schüler begleiten. Auch Traurigkeit kann aufkommen.
PV:
​​​​Wird viel geweint?
JM:
​​Es wird schon mal geweint. Aus Traurigkeit oder Wut. Große Gefühle können da entstehen. Es kann aber genauso gut passieren, dass eine Schülerin plötzlich an Präsenz gewinnt und ihre Energie bis zur anderen Straßenseite reicht, sie aber sagt: „So kann ich nicht in die Welt gehen, dann bekommen alle Angst vor mir.“ Menschen, die sich eher zurücknehmen, können natürlich über das freie Singen in Prozesse kommen, die gar nicht absehbar waren oder in die sie vielleicht gar nicht kommen wollten.
PV:
​​​​​Treten emotionale Probleme auf?
JM:
​​​
​Ich kann mir ein Leben ohne Gesang gar nicht mehr vorstellen.
​Ich habe eine Freundin, die hat Gesang studiert, so wie ich und hat gemerkt, zu ihr kommen immer Schüler, bei denen sich über die Stimmarbeit eher emotionale Themen auftun, ob nun bewusst oder unbewusst, und die hat jetzt noch Musiktherapie studiert. Ich für mich möchte eher nicht therapeutisch begleiten, sondern dass ich Kompetenzen vermitteln möchte, also Stimm-kompetenz und eine größere Funktionalität im Singen und ich glaube, je stärker wir sozusagen in eine gesunde Funktion kommen in unserem Leben, desto leichter lösen sich auch emotionale oder seelische Schwierigkeiten auf. Auf dem gemeinsamen Weg hin zu einer guten Stimmbalance und einem freien Klang werden manchmal feste Gewohnheitsmuster und Grenzen offenbar, die auch emotionale oder seelische Gründe haben können und denen sich der Schüler vielleicht zunächst gar nicht bewusst war. Natürlich bin ich offen für diese Entwicklungsebene und wenn der Schüler das Bedürfnis hat, diese Prozesse mit mir gemeinsam und in Bezug zu seiner/ihrer Stimmentwicklung zu reflektieren, finde ich das spannend und auch sehr bereichernd. Wenn mal starke psychische Themen aufkommen, die über die Arbeit mit der Stimme allein nicht zu bewältigen sind und über die gemeinsame Stimmarbeit hinaus weisen, verweise ich auf den Therapeuten, das finde ich dann richtiger.
PV:
​​​​Wie entwickeln Sie sich weiter?
JM:
​​Ich habe mich noch mal sehr intensiv mit der funktionalen Stimmarbeit von Cornelius Reid auseinandergesetzt.*
PV:
​​Können Sie die Menschen, die zu Ihnen kommen, so lassen wie sie sind?
JM:
Ja, ich lerne es immer mehr. Ich habe im Zuge der Auseinandersetzung mit diesem sehr interessanten Ansatz von Reid auch noch Feldenkrais entdeckt und finde das auch sehr, sehr spannend. Es geht auch da um Potenzial-erweiterung, ohne dass manipuliert wird. Mich interessiert die echte Stimme, die natürliche Stimme, der nicht-manipulative Ansatz. Feldenkrais und Reid sind sich da sehr nahe.
PV:
​​Braucht es dafür Vertrauen?
JM:
​​​Ja, auch immer weiter gehen, nicht stehen bleiben zu wollen.
PV:
​​​​Wie lange machen Sie das schon?
JM:
​​​​Seit 2004.
PV:
​​​14 Jahre. Würden Sie einem jungen Menschen empfehlen Gesang zu studieren?
JM:
​​​​​Ich kann mir ein Leben ohne Gesang gar nicht mehr vorstellen. Für mich war es ein sehr spannender Weg bis hierher und er geht ja weiter. Also sage ich, tu es, wenn du es wirklich willst. Es ist ein wunderbarer Weg, man darf sich halt nicht von anderen in eine Schublade drängen lassen. Das Leben ist bunt und die Wege sind manchmal verzweigt.
PV:
​​​​​Könnten Sie eine bestimmte Art von Ausbildung empfehlen?
JM:
​​​​Also das Wichtigste ist, dass man die richtigen Wegbegleiter findet für den eigenen Weg. Ich war sehr naiv und einfach nur froh, dass ich mein Ding gefunden hatte und so kam ich zu Lehrern, die es mir auch schwer gemacht haben, wo ich mich immer wieder selber aufbauen musste. Ich habe erst nach dem Studium meine wichtigen Lehrer getroffen. Meine Empfehlung lautet also, wenn du Gesang studieren möchtest, finde Wegbegleiter, bei denen du ein gutes Gefühl hast, die richtig sind für dich und nicht, du bist richtig für sie. Also vorher gucken, wo könnte ich das studieren, wer könnte das sein, mal hingehen, Kontakt aufnehmen, Vorsingen, Gespräche führen, nicht nur aufs Fachliche, auch aufs Menschliche schauen und nicht nur nach Berühmtheit Ausschau halten.
PV:
​​​​​​Jetzt haben Sie ja einen Beruf, der überwiegend Freude verbreitet. Sowohl allen Beteiligten als auch Ihnen. Können Sie sich vorstellen was Anderes zu machen?
JM:
​​​​Im Moment nicht. Ich mache ja noch die Feldenkraisausbildung und ich könnte mir vorstellen das mit dem Gesangsunterricht zu verbinden. In meinem Zukunftsbild sehe ich einen richtig großen Raum, in dem ich auch Gruppenarbeit mache. Einerseits möchte ich gerne noch mehr Richtung Schüler gehen, die auch klassisch singen, die auch mein Repertoire singen wollen und andererseits möchte ich gern in so eine Art Gruppenarbeit gehen, die alles miteinander verbindet, also mich noch ein wenig breiter fächern.
PV:
​​​​​​​Lebenslanges Lernen also?
JM:
​​​​​​​Ja genau. Bei Feldenkrais geht es ja auch ums Lernen. Es geht darum über das Probieren zu lernen, über das Wahrnehmen des eigenen Tuns. Dieses natürliche Lernen zu verbinden mit dem klassischen Singen, das ist eine schöne Erweiterung.
PV:
​​​​​​Gibt es eine Bühne, auf der Sie gerne mal stehen würden? Zum Beispiel Bayreuth?
JM:
​​​​​​Bayreuth zieht mich jetzt nicht so an. Wagner ist auch nicht so ganz mein Fach. Aber es gibt wunderschöne Konzertsäle, in denen ich gerne singen würde.
PV:
​​​​​​Und wo wäre das?
JM:
​​​​​​Es gibt so viele. Der Palau de la Música Catalana in Barcelona ist ein wunderbarer Konzertsaal...
PV:
​​​​​​Wäre ein eigenes großes Studio besser?
JM:
​​​​​​​Beides. Aber noch mehr geht es darum was ich noch gerne im Konzert singen möchte oder was ich spannend fände. Ich würde wahnsinnig gern mal Alban Bergs „7 frühe Lieder“ mit Orchester machen, nicht nur in der Klavierfassung. Auch die Orchesterlieder von Strauss und die Solo-partien für Sopran in Mozarts „Messe in c-Moll“ und Bachs „Johannes-Passion“ reizen mich sehr. Die „Johannes-Passion“ liebe ich sehr, das ist eigentlich noch wichtiger, natürlich mit einem tollen Barockensemble.
PV:
​​Vielen Dank für das stimmvolle Interview.
http://www.stimmraumgesang.de
*Das war ein New Yorker Gesangspädagoge, der die alten Belcanto Schriften intensiv studiert und mit unserem heutigen physiologischen Wissen über die Stimme verbunden hat und in seiner Arbeit sehr funktional ansetzt, ganz ohne Psychologie. Die vor Reid durch den Verismo in Vergessenheit geratenen Belcantoübungen, insbesondere die isolierten Registerübungen von Kopf- und Brustregister und messa di voce Übungen ermöglichen es zu einer natürlichen Stimmbalance zu gelangen. Der Schüler findet weniger über eine anvisiertes Klangideal, vielmehr über eine Verbesserung der Stimmkoordination zu ihrem eigenen Stimmklang; mit Hilfe von Differenzierung und Integration, Spontanität und musikalischen Mustern, die einen Probierrahmen für organisches Lernen schaffen. Es wird sozusagen einen Spielplatz für die Stimme geschaffen.


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