Heike Niemeier

Sexberaterin

Interview mit Heike Niemeier. Lange hat sie nichts mehr so glücklich gemacht wie die Sexberatung, mit der sie es anderen Menschen ermöglicht wieder eine erfüllende Sexualität zu leben.

PV:
Frau Niemeier, wie um alles in der Welt wird man Sexberaterin?
HN:
Tatsächlich ist es meist ein Kommunikations-problem, das sich in der Sexualität widerspiegelt.
Obwohl naheliegend, brauchte ich etwas Zeit mir bewusst zu werden, was ich von meinem Leben erwarte. Ich war viele Jahre äußerst erfolgreich mit meiner Veranstaltungsagentur tätig. Doch ich hatte den Punkt erreicht, dass mich das alles nur noch erschöpft und belastet hat. Die Arbeit reizte mich nicht mehr. Ich suchte nach tieferem Sinn. Schon immer habe ich gerne mit Menschen gearbeitet. Doch ich wusste nicht wie ich mich neu orientieren sollte. Ein professionelles Karriere-Coaching hatte mir dann die Augen geöffnet. Sexberatung, so die Coaches, würde all meine Talente, Interessen und Erfahrungen – ich hatte zum Beispiel bereits ein Zertifikat als Mediatorin – verbinden. Was erst als verrückte Idee im Raum stand, wurde durch Gespräche mit Freunden und Bekannten konkret. Sie erinnerten mich daran, dass ich schon immer, sogar schon zur Zeit meines Studiums, viele Mitmenschen zum Thema Liebe, Leid und Sexualität beraten hatte. Daraufhin habe ich mich sachkundig gemacht, eine Sexualberatungsausbildung absolviert und seitdem meine neue Berufung mit großer Leidenschaft verfolgt.
PV:
Wer nimmt Ihre Beratung in Anspruch?
HN:
Das ist sehr unterschiedlich. Die Bandbreite reicht von zwanzigjährigen bis zu über sechzigjährigen Männern und Frauen, Paaren und Singles.
PV:
Und haben die alle eine ähnliche Problemstellung oder ist das höchst unterschiedlich?
HN:
Um es auf den Punkt zu bringen, tatsächlich ist es meist ein Kommunikationsproblem, das sich in der Sexualität widerspiegelt. Nur wenige meiner Klienten*Klientinnen haben psychische Erkrankungen, die von einem Psychologen behandelt werden müssen. Es sind meist die kleinen Probleme des Alltags, die sich als belastende Prozesse manifestieren. Diese mache ich in meiner Arbeit mit Klienten*Klientinnen erkennbar und dadurch überhaupt lösbar.
PV:
Das ist überraschend. Woran liegt das?
HN:
Ganz einfach, die Menschen sprechen nicht miteinander.
PV:
Sie sprechen nicht über ihr Sexleben?
HN:
Auch das. Vielmehr sprechen sie nicht über sich selbst, ihre Wünsche, ihre Vorlieben, ihre Probleme. Sie tauschen sich nicht aus. Die Kommunikation darüber ist oft gleich Null. Diese Kommunikation versuche ich wieder anzustoßen. Denn viele Menschen haben verlernt offen auf ihre*n Partner*in zuzugehen, sich zu öffnen, Interesse zu zeigen. Und genau das spiegelt sich in der Sexualität wieder.
PV:
Warum sprechen Menschen in Partnerschaften nicht über Sex?
HN:
Neugier halte ich für sehr wichtig. Denn sie ist Voraussetzung dafür, die eigene Lust und Sexualität, und auch die des Gegenübers, zu entdecken.
Stellen Sie sich vor, Sie sind seit vielen Jahren verheiratet und in den letzten Jahren gab es kaum noch Sex aus den unterschiedlichsten Gründen. Häufig sind die Kinder der Grund oder der Beruf, der viel Raum einnimmt. Schnell haben sich Routinen eingeschlichen und letztlich wird nicht mehr gesprochen, weil „eigentlich“ ja alles gut ist. Doch auf einmal kommt da wieder diese Sehnsucht nach Zärtlichkeit, Körperlichkeit und Sexualität. Es gibt wieder Raum dafür, weil die Kinder aus dem Haus sind oder der Stress der Arbeit etwas abgenommen hat. Sich dann offen und ehrlich vor seine*n Partner*in zu stellen und diesen oder jenen Wunsch zu äußern, verlangt Mut. Da ist die große Angst enttäuscht zu werden oder das Gegenüber zu verletzen und so gehen viele Paare den Weg des geringsten Widerstands und schweigen. Doch Schweigen ist ein Beziehungskiller. Ich zeige Wege auf, dieses Schweigen zu durchbrechen, um eine lustvolle Sexualität wieder erfahren zu können. Und das ist oft leichter als gedacht.
PV:
Behandeln Sie alle Menschen, die zu Ihnen kommen, gleich oder schlüpfen Sie in unterschiedliche Rollen?
HN:
Nein, ich bleibe immer ich. Authentizität ist mir sehr wichtig. Das Rollenspiel überlasse ich lieber dem Theater und dem Film.
PV:
Was ist im Leben und in der Sexualität wichtiger? Neugier oder Können?
HN:
Mit dem Wissen von heute würde ich sagen: mach das, was du willst.
Neugier halte ich für sehr wichtig. Denn sie ist Voraussetzung dafür, die eigene Lust und Sexualität, und auch die des Gegenübers, zu entdecken. Nur so kann eine erfüllte Sexualität erblühen. Es ist schön zu erkennen, dass diese Neugier auch unabhängig vom Alter ist. Manche Menschen sind grundsätzlich neugierig, wenn es um Sexualität geht. Andere wiederum entdecken diese Neugier und die Freude, die damit einhergeht, erst im Alter. Doch nichts ist verloren oder zu spät, um diese Gier nach Neuem zuzulassen und etwas Neues zu lernen. Und da komme ich zum zweiten Punkt. Von Können würde ich ungern sprechen. Viel wichtiger erscheint mir Wissen. Das Wissen über den eigenen und den anderen Körper, über Techniken, Praktiken, Lust aber auch über die Risiken bestimmter Spielarten fehlt oft. Manchmal sitzen Paare vor mir und äußern den Wunsch sich zu fesseln. Das kann sehr erregend und erfüllend für beide sein, aber hier ist unbedingt Vorab-Information notwendig. Leider sind die Wissenslücken in vielen, auch grundlegenden Bereichen, noch sehr groß. Ich plädiere immer für eine offene, ehrliche und lustbetonte Aufklärung, insbesondere auch bei Kindern und Jugendlichen. Davon sind wir allerdings noch weit entfernt.
PV:
Wen verstehen Sie am besten, Frauen, Männer, Junge, Alte?
HN:
Das hängt nicht von Geschlecht oder Alter ab. Aufgrund meiner direkten und offenen Art spreche ich sicherlich eine ganz bestimmte Klientel an, die dann auch zu mir kommt. Zwischen Klient*in und mir muss es passen, denn es geht um ganz viel Vertrauen. Wenn diese Grundvoraussetzung nicht gegeben ist, lehne ich auch Anfragen ab. Ich freue mich aber natürlich, dass mich auch sehr junge Menschen um Rat bitten, was allerdings meine These, dass die Aufklärung von Jugendlichen Lücken aufweist, unterstreicht.
PV:
Und wie sieht sie aus, diese Klientel?
HN:
Es ist eine Klientel, die mit meiner klaren, ehrlichen Sprache sehr gut zu Recht kommt. Meine Klienten*Klientinnen schätzen meine Kommunikations-fähigkeit und Intuition. Ich habe eine recht breite Wahrnehmungsgabe auf unterschiedlichen Ebenen. Neben meiner Empathie kann ich Prozesse und daraus resultierende Probleme, Schwierigkeiten oder Hemmungen sehr schnell auf den Punkt bringen und mögliche Lösungswege gemeinsam mit dem Klienten gehen.
PV:
Was ist wichtiger, die Kontrolle zu behalten oder zu wissen, wann man loslassen muss.
HN:
Weder noch. Ich denke, dass kontrolliertes Loslassen sehr befreiend sein kann und sanfte Kontrolle einige reizvolle Momente bietet.
PV:
Haben Sie aus früheren Liebesbeziehungen für die nächste gelernt?
HN:
Durchaus, das ist vorgekommen. Je mehr ich mich selbst kennengelernt habe, gerade in den letzten Jahren, desto besser konnte ich sagen, was ich möchte, was ich nicht möchte, wo meine Grenzen liegen und auch über welche Grenzen ich vielleicht gehen möchte. Und manchmal habe ich Grenzen mutig überwunden und konnte meinen eigenen sexuellen Horizont erweitern.
PV:
Was bedeutet Feminismus für Sie?
HN:
Das würde ich gerne auf einen Satz bringen: Wir sind alle gleich!
PV:
Sie beraten Menschen, aber wen bitten Sie um einen Rat?
HN:
Man sollte immer nein sagen, wenn man etwas nicht will.
Ich habe sehr gute Freundinnen und einen sehr guten Freund, der mich in professionellen Zusammenhängen berät. Falls ich gar nicht weiterkommen würde, würde ich mir einen Therapeuten suchen. Es kann Situationen im Leben geben, die einem den Boden unter den Füßen wegziehen. Dann würde ich immer auf fachliche Kompetenz zurückgreifen. Das ist auch jederzeit mein Rat gegenüber Klienten*Klientinnen. Ich bin eine Ratgeberin, aber keine Therapeutin.
PV:
Welchen Rat würden Sie heute Ihrem achtzehnjährigen Ich geben?
HN:
Mit dem Wissen von heute würde ich sagen: mach das, was du willst. Mach das, was dir dein Herz sagt und lass dich nicht von den Meinungen und den Ängsten anderer Menschen davon abbringen.
PV:
Was ist der größte Luxus in Ihrem Leben?
HN:
Wieder mehr Zeit für mich zu haben und das Leben genießen zu können.
PV:
Gibt es das vollkommene irdische Glück?
HN:
Nach meiner Definition ja. Aber das sind Momente, kleine Momente, in denen das Glück kommt. Manchmal begegnet mir dieses Glück auf der Straße, weil mich jemand freundlich anlächelt oder etwas sehr Schönes zu mir sagt oder ich jemandem etwas Schönes sage und das ist dann der Moment, in dem ich die Arme hochreiße und sage: „Jaaa!“ Ich nenne diese Momente „Visual falling in love Momente“.
PV:
Wozu raten Sie Ihren Klienten*Klientinnen eher, zu technischen Geräten oder zu mehr Zweisamkeit?
HN:
Diese Frage ist nicht so oder so zu beantworten. In großen Mengen genossen sind Sextoys Fluch, in kleinen Mengen genossen durchaus Segen. Ich selbst bin ein Fan der Berührungen von Hand zu Hand, von Haut zu Haut, von Hand zu Haut, auch bei der Selbstbefriedigung.
PV:
Gibt es so etwas wie eine Brücke, wenn man sich nicht traut, seinen Sexwunsch klar und deutlich auszusprechen?
HN:
Ich empfehle gerne „Schreiben und Senden“. Heute kann man das digital per Smartphone ganz einfach machen. Eine verführerische WhatsApp am Morgen kann den ganzen Tag beflügeln und lässt Raum für Fantasien. Auch ein sinnlicher, sexuell angehauchter Brief, den man morgens im Büro findet, kann etwas sehr Schönes sein. Aber auch gemeinsam einen Film zu sehen lässt Raum für Kommentare wie „Oh, das könnte ich mir auch gut vorstellen“ und gibt Anregungen zur Nachahmung.
PV:
Gibt es mehr Menschen mit sexuellen Problemen, als Menschen mit einer befriedigenden Sexualität?
HN:
Gefühlt würde ich Ja sagen. Eine Statistik dazu kenne ich nicht. Aber ich weiß aus meiner Arbeit, dass die Unsicherheit vieler Menschen in Bezug auf Sex recht groß ist. Wenn diese Unsicherheit einfach abgelegt werden könnte, würde sicherlich vielmehr erfüllende Sexualität stattfinden.
PV:
Jetzt ist einfach ablegen gar nicht so einfach. Wäre es eine Möglichkeit die eigene Unsicherheit zuzugeben?
HN:
Guter Sex macht gesund, er macht uns schön.
Ja, definitiv. Ich glaube, dass es schon damit anfängt, zuzugeben, dass man sich etwas nicht traut, was der andere sich wünscht. Ein gutes Beispiel ist der Analverkehr. In meiner Praxis wird Analverkehr oft als ein ziemlich unwillkommener Gast beim Sex bezeichnet. Dann zuzugeben, dass man (noch) kein Fan dieser Praktik ist und gemeinsam einen Weg finden möchte, sich langsam damit anzufreunden oder das Thema zu bearbeiten, ist definitiv nicht einfach.
PV:
Wäre es auch okay, es einfach nicht zu mögen?
HN:
Dann entsteht echte Intimität, und die bringt uns zum Strahlen.
Ja natürlich. Allerdings sind oft Unkenntnis oder schlechte Erfahrungen der Grund für die Ablehnung. Die schlechte Erfahrung, die man vor einiger Zeit gemacht hat überträgt man schnell auf den neuen Partner oder die neue Partnerin. Wenn diese einem dann aber den Raum geben sich gemeinsam und langsam an das Thema heranzutasten, besteht durchaus die Möglichkeit eine negative Erfahrung ablegen und in etwas Positives verwandeln zu können. Ich finde es schon wichtig, dass man sich diese Offenheit erhält. Das darf natürlich nicht erzwungen werden. Aber eine schöne Po Massage kann ja vielleicht schon eine Annäherung sein.
PV:
Aber man kann auch nein sagen.
HN:
Selbstverständlich, man sollte immer nein sagen, wenn man etwas nicht will und nein heißt auch NEIN! Und das bedeutet nicht, wie über Frauen häufig gesagt wird, wenn sie nein sagen, dann meinen sie ja. Sorry, aber nein heißt nein und ja heißt ja.
PV:
Bedeutet das, dass Sexualität auch eine Frage des Mutes ist?
HN:
Mut, aber auch Vertrauen in den Partner oder die Partnerin. Denn wenn diese*r den Mut missbraucht dann ist das keine Basis. Wichtig ist das in jeder sexuellen Begegnung ein Konsens besteht.
PV:
Sind wir Deutschen eine prüde Nation? Im Gegensatz zu den Franzosen oder den Italienern?
HN:
Nein, ich glaube, in jedem Land gibt es solche und solche, ich würde uns jetzt nicht als prüde bezeichnen.
PV:
Fantasieloser als andere?
HN:
Nein, das glaube ich auch nicht. Vieles ist einfach nur Klischee. Denken Sie an die 20er Jahre in Berlin oder das heutige Berlin. Was bitte soll da fantasielos sein? Und diese Fantasie hört nicht außerhalb Berlins auf.
PV:
Glauben Sie, dass eines Tages die Menschen genauso selbstverständlich zu einer Sexberaterin gehen werden, wie zum Therapeuten oder Coach?
HN:
Ja, daran glaube ich fest, denn wir sind schon auf dem Weg dahin. Eine Sexberaterin macht nichts anderes als ein Coach, außer dass die Komponente Sexualität hinzukommt. Doch wie gesagt, oftmals sind es belastende Prozesse, die Menschen zu mir führen. Ich sehe keinen Grund, warum man sich für die Lösung dieser Belastungen nicht einen freundlichen Rat von einer Person außerhalb des eigenen Freundes- oder Bekanntenkreises holen sollte.
PV:
Wie würde eine Welt aussehen, wenn alle Menschen guten Sex hätten?
HN:
Die würde absolut wundervoll aussehen. Guter Sex macht gesund, er macht uns schön, vor allem glücklich und sicherlich auch ein bisschen klüger.
PV:
Auch friedlicher?
HN:
Wie fühlen Sie sich nach dem Sex, wenn er erfüllend war? Wahrscheinlich entspannt und smooth und sicher nicht in der Stimmung zu streiten. Da haben Sie die Antwort.
PV:
Womit verbringen Sie Ihre freie Zeit?
HN:
Was ich sehr gerne mache, ist, in meinem Lieblingscafé zu sitzen und Menschen zu beobachten. Und einen Großteil meiner freien Zeit verbringe ich natürlich gerne mit meinen guten Freunden, meinen Patenkindern und ich lese und tanze unglaublich gerne.
PV:
Haben Sie es je bereut, Ihrer Leidenschaft zu folgen?
HN:
Nein. Ich weiß, dass das ein sehr mutiger Schritt war, weil ich ja eine erfolgreiche Karriere hinter mir gelassen habe. Aber ich war lange nicht so zufrieden wie ich es heute als Sexberaterin bin.
PV:
Gibt es aus ihrer Sicht den guten Liebhaber oder die gute Liebhaberin?
HN:
Das ist abhängig vom Gegenüber. Außerdem, was ist gut? Was ist schlecht? Ich glaube, es gibt Menschen, die sexuell sehr gut zusammenpassen und welche, da passt es eben nicht so gut. Es fängt ja schon damit an, kann ich ihn oder sie gut riechen? Wenn nicht, kann ich sie oder ihn dann überhaupt körperlich anziehend finden?
PV:
Gibt es so etwas wie sexuelle Könnerschaft?
HN:
Könnerschaft im Sinne von ich kenne meinen Körper, meine Lust und auch den Körper und die Lust meines Gegenübers und gehe damit achtsam um, gibt es definitiv.
PV:
Eine Frage, die viele bewegt, ist doch sicherlich, bin ich gut im Bett?
HN:
Gut im Bett für wen denn? Wichtig ist, dass man eine erfüllende Sexualität hat, die abseits von Normen, Klischees und medial aufgebauten Bildern mich und mein Gegenüber glücklich macht. Wenn ich zum Beispiel den ganzen Tag eingecremt werden will, dann ist das gut und sexy für mich, weil es lustvoll für mich ist. Es gibt kein gut oder schlecht. Es ist und bleibt die Entscheidung jedes einzelnen Menschen. Am wichtigsten ist es keine Performance, kein Programm abzuspulen, sondern wie ich schon erwähnte achtsam und ehrlich mit den Bedürfnissen der*des anderen und vor allem den eigenen Bedürfnissen umzugehen. Dann entsteht echte Intimität, und die bringt uns zum Strahlen.
PV:
Frau Niemeier, vielen Dank für das Gespräch.
 
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http://www.heike-niemeier.de

 



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