Dr. Michael Siemer

Unternehmer

Dr. Michael Siemer Director – Owner von Westend Medien GmbH und des Technoclubs “Gewölbe” ist bis heute von diesen beiden Welten fasziniert.

PV:
Dr. Siemer, Sie haben gleich zwei Leidenschaften, Schreiben und Elektronische Musik. Passt das gut zusammen?
MS:
Definitiv. Mir gefallen die Kontraste zwischen Club und Agentur: in der Agentur habe ich nur mit Leuten zu tun, die immer sehr auf Professionalität achten. Man macht einen Termin und der findet tatsächlich statt. Das steht in einem krassen Kontrast zur Gastroszene und dem Nachtleben, das ja ein Ventil für Leute ist, die in der Regel Angestellte sind. Egal, wie sehr man sich bemüht, es gibt immer diese kleinen Ecken von Unprofessionalität, Hängertum und eben Lebenskunst. Der Einblick in diese beiden Welten fasziniert mich bis heute.
PV:
Hält man Sie auch schon mal für verrückt?
MS:
Ich habe eben schon immer gerne gearbeitet, ganz besonders selbständig und lediglich fremdbestimmt von Kunden oder Gästen.
Nein, für verrückt hält mich niemand. Die Leute fragen sich eher, wie ich beides organisiere, weil es nach viel Arbeit aussieht. Ist es auch. Aber es ist auch die Frage, was man als Arbeit definiert. Ich habe eben schon immer gerne gearbeitet, ganz besonders selbständig und lediglich fremdbestimmt von Kunden oder Gästen. Sie sehen ja, ich laufe hier in Hausschuhen rum, weil mein Büro ja auch ein bisschen mein Wohnzimmer ist. Verrückt mag das in den Augen derer sein, die bestimmte Vorstellungen von Arbeit haben: ich will nur so und so viele Stunden arbeiten, ich brauche so und so viel Freizeit, ich brauche dieses oder jenes Setting – ich habe diese Einstellung aber nicht und sie interessiert mich auch nicht. Mein Geschenk zu meinem 50. an mich selbst war das Ende der klassischen 5 Tage Woche im Büro. Seither arbeite ich freitags zu Hause, auch um mal auf andere Gedanken zu kommen oder andere Sachen zu machen. Ideen entstehen ja an den seltsamsten Orten. Dieser Wandel ist auch ein Häutungsprozess, wenn man älter wird, die Ansprüche von außen verändern sich. Beispielsweise erwartet keiner mehr von mir, dass ich alles selber mache, man erwartet eher die Steuerung des großen Ganzen. Im Club ist das so ähnlich. Als wir nach einer längeren Renovierung 2011 wieder aufgemacht haben, war ich 46 und dachte so in einer Fußnote: Eigentlich bist du viel zu alt für das hier. War aber Quatsch, weil ich kapiert habe, dass ich eine Funktion dort erfülle für den Laden – und darum geht’s
PV:
Gibt es erste Erinnerungen ans Musikhören?
MS:
Das weiß ich noch ganz genau. Meine erste Platte war eine Single von David Bowie, da war ich 12 – „Sound and Vision“, die Auskopplung vom Album „Low“. Die erste, von meinem Taschengeld selbst gekaufte war von den Fehlfarben MONARCHIE UND ALLTAG, das war 1979 glaube ich. Das traf mich emotional bis ins Mark – und von da aus hat sich das dann weiterentwickelt bis heute über New Wave, House, Acid und Techno. Ich bin da ziemlich eklektisch und habe eigentlich alles mitgenommen, was dazugehört, auch ein bißchen heavy metal.
PV:
Haben Sie Favoriten in der Literatur?
MS:
In der Literatur liebe ich alles, was schnell ist und Esprit hat. Junge deutsche Literatur kann ich nicht gut lesen, das ist mir zuviel Befindlichkeitstext. Was ich derzeit besonders liebe, sind die jungen Franzosen. Der Franzose wird ja sozusagen geboren, um sich zu beschweren. Ich finde diese Haltung in der Literatur sensationell, zum Beispiel bei Vernon Subutex von Virginie Depentes, diese Trilogie über einen Plattenladenbesitzer, der am Ende auf der Straße landet. Das hat Geschwindigkeit, Humor und ist bitterböse. Außerdem – vielleicht ein wenig altmodisch – liebe ich Lyrik. Meine neueste Entdeckung, obwohl das nicht mehr wahnsinnig neu ist, ist die Rapperin, Kate Tempest. Musikalisch ist das so gar nicht mein Geschmack ist, aber die Texte – oh lala!
PV:
Haben Sie in der Musik auch Favoriten?
MS:
Ja definitiv, ich mochte immer gerne Minimal-Sachen, fast alles um das Kompakt Label herum. Ich mag aber auch gerne diese ganz harten Sachen, so wie Lobster Theremin, ein recht düsteres und hartes Label aus London, die finde ich richtig toll. Ich mag aber auch housige Sachen wie den Norweger Skatebard oder Gerd Janson aus Frankfurt. Meistens stöbere ich bei Soundcloud oder Rinse FM, was gerade neu eingestellt wurde. Ich kriege aber auch viele Sachen von jungen Musikern zugeschickt über Insta – da höre ich dann auch öfter mal rein.
PV:
Gibt es irgendeine Gruppe, die Sie supertoll finden?
MS:
Meine erste Platte war eine Single von David Bowie, da war ich 12
Da fallen mir natürlich sofort The Queen ein. Ich glaube, dass sie in ihrer Opulenz, Eklektizismus und ihrer völlig perfekt und übertriebenen Hochglanznummer einzigartig sind. In den Achtzigern mochte ich immer gerne The Smiths oder in den 90ern Suede Radiohead oder Blur. Zur Zeit höre ich gerne die Cigarettes after Sex, eine Indi-Band aus Los Angeles. Eigentlich machen die zwar nichts wirklich Neues, sondern getragenen, melancholischen Pop mit Country- und Western-Anklängen – aber es ist äußert gut gemacht. Das ist ja auch das Problem mit Underground in unserer Zeit. Gibt es nicht mehr, weil die großen Umbrüche bereits stattgefunden haben. Kulturell sind wir derzeit im Wartesaal der Geschichte und warten auf die Ankunft von etwas völlig Neuem. Man sieht das ja auch in den gesellschaftlichen Verwerfungen in der Politik und Corona hat diesen Prozess noch einmal beschleunigt.
PV:
Gibt es gesellschaftliche Konventionen, die Ihnen auf die Nerven gehen?
MS:
Ja. Konvention als Selbstzweck an und für sich. Nicht, weil ich nicht an Höflichkeit glaube, aber mich nervt manchmal das Ritualisierte. Ein Beispiel: Mit Mitte 40 hatte ich so eine Phase in der ich dachte: aha, der Mensch Mitte 40 trifft offensichtlich nur noch Freunde und geht gut essen. Das finde ich ultralangweilig.
PV:
Kann es sein, dass so eine Halt gebende Struktur das Gefühl gibt noch ein Leben zu haben, in dem die Jugend aber nicht mehr anwesend ist?
MS:
Das finde ich einen sehr guten Gedanken. Das Leben führt einen ja durch allerlei Klippen, Herausforderungen und Schwierigkeiten. Von daher sollte älter werden für mich eher mit dem Bekenntnis der eigenen Verletzlichkeit einhergehen. Doch die meisten machen etwas völlig anderes und deshalb finde ich diese durchritualisierten Begegnungen so schrecklich, weil es oft nur noch um Repräsentieren geht. Das ist so schrecklich langweilig und zugleich brauchen so viele diese Bühne. Ein Alptraum.
PV:
Wenn Sie könnten, was würden Sie verbieten?
MS:
Elektroroller. Da stehen meist nur Leute drauf, die besser mal ein paar Schritte laufen würden. Außerdem parken die meisten, als gäbe es kein Morgen. Ich finde die eine total asoziale Entwicklung, die unter dem Label Umweltschutz auch noch gehypt werden. Kauft Euch ein Fahrrad Leute.
PV:
Zu welchen Anlässen sind Sie wirklich erwachsen?
MS:
Der Franzose wird ja sozusagen geboren, um sich zu beschweren.
Mal nachdenken. Also vor allem, wenn ich mich mit Kunden treffe, die ich erst kurz kenne – oder berühmte DJs abhole, die ein entsprechendes Setting erwarten. In diesen Situationen ist irgendwie klar, dass man diese Form der Professionalität zunächst braucht, um diskursfähig in der Situation mit dieser Person zu werden. Bei vielen Treffen geht es ja darum, ob man sich durch sein Verhalten eine Teilnahme am Diskurs erwirtschaftet hat oder nicht. Interessant in der Corona-Zeit: Das ganze Video-Conferncing-Ding hat viele dieser Formalismen im Wirtschaftsleben aufgebrochen. Wenn Sie einmal so und so viele Geschäftsführer in einer Videokonferenz im Kinderzimmer gesehen haben, verliert sich allerdings vieles von diesem Förmlichen. Oder aber es ist ein Zeichen dafür, dass er sich bei uns wohlfühlt oder zumindest ein gewisses Vertrauen hat.
PV:
In welcher Situation laufen Sie zur Höchstform auf?
MS:
Wenn ich denke, ich schaffe etwas nicht oder wenn ich etwas vergessen habe und unter Termindruck stehe - dann klappt es eigentlich immer. Ich weiß ja nicht, ob das dann die Höchstform ist, aber zumindest ist es die Höchstform in dem Sinne, dass das Unterbewusstsein einem seine kleine Fokus-Armee zur Bewältigung der Aufgabe schickt.
PV:
Was unterscheidet Sie von Ihren Kollegen hier wie da – in der PR wie in der Musik?
MS:
Im Club sind wir zwei Leute, die die GmbH betreiben und ein Künstlerkollektiv dahinter, das Musik und Events kuratiert. Hier bin ich natürlich der Spießer, weil ich mich um die Zahlen kümmere, aber gleichzeitig gebe ich dadurch Struktur und Verlässlichkeit. In der Agentur bin ich der Gründer und natürlich auch älter als meine Mitarbeiter. Für beide Organisationen gilt: alte, autoritäre Arbeitsmodelle sind überholt. Ich möchte, dass sich meine Mitarbeiter möglichst von mir freischwimmen und meine Tätigkeit eher als beratend wahrnehmen – dann habe ich es gut gemacht und kann mich um neue Sachen kümmern.
PV:
Gibt es ein Thema, über das Sie gerne mal schreiben würden, aber noch nie Gelegenheit hatten dazu?
MS:
Ja, ich würde gerne mal darüber schreiben, wie Düsseldorf in punkto Ausgehen und Nachtleben zu so einer Oberkatastrophe mutieren konnte. Wann ist das alles so grauenhaft entgleist und erstarrt?
PV:
Haben Sie eine Theorie dazu?
MS:
Kulturell sind wir derzeit im Wartesaal der Geschichte
Ich glaube, das hat verschiedene Gründe. Seit 2005 hat die Stadt ja auf Düsseldorf als Luxusstandort gesetzt, Bau- und Ordnungsamt sind seit dem Flughafenbrand in einer Art Schockstarre und ich glaube, im Kulturamt und Rathaus sitzen nur Leute, die keine Risiken mehr eingehen wollen. Das Ergebnis: Es wird nur noch abgefeiert, was woanders bereits Erfolg hatte. Das ist im Grunde genommen eine Art kultureller Bankrott für eine so reiche Stadt. Heraus kommen dann Sachen wie die x-te Auflage einer Kraftwerk, Zero oder Ratinger-Hof -Ausstellung. Ich verstehe das nicht. Es ist mir ein totales Rätsel, wie eine Stadt mit einer Akademie, einer Universität, mehreren Hochschulen und vielen jungen Leuten einfach alles Abwegige ignoriert. Warum machen die nichts außer der Jazz-Rally oder Sachen, die viel zu viel Geld kosten?
PV:
Haben Sie mit Ihren beiden Leidenschaften ein aufregenderes Leben als andere Menschen?
MS:
Die Frage stelle ich mir gar nicht. Ich bin sehr zufrieden und mir macht es Spaß, das ist meine Messlatte. Versucht nicht jeder das umzusetzen, was er an Vorstellungen hat? Die Bilder sind halt unterschiedlich ausgekleidet.
PV:
Würden Sie im Lotto gewinnen oder eine große Erbschaft machen, würden Sie Ihr Leben verändern?
MS:
Ich glaube nicht. Man hat ja manchmal so Ideen, dann denkt man, so eine Zweitwohnung wäre schön. Aber, dann denke ich wieder, für das Geld könntest du ja auch ins Hotel gehen und bräuchtest Dich um nix zu kümmern. Ich glaube, das gefällt mir besser.
PV:
Gibt es kein Projekt am Horizont, für das Sie Geld in die Hand nehmen würden?
MS:
Also, was mir wirklich noch im Kopf rumschwirrt ist die Idee, eine Sake-Bar aufzumachen. Ich habe ja Japanologie studiert und länger in Japan gelebt, insofern wäre das eine schöne Abrundung dieses Themas. Es müsste eine Mischung aus Bar und Club sein, am besten im japanischen Viertel. Das habe ich immer irgendwie im Hinterkopf.
PV:
Was ist Ihnen im Leben wirklich wichtig?
MS:
In einem schönen Lebensfluss zu sein, das Gefühl zu haben, auch schlechte Tage annehmen und sagen zu können: Nun ist dieser Tag eben so, der wird jetzt auch nicht mehr besser - morgen sieht es wieder ganz anders aus.
PV:
Wie sieht Ihr Plan aus, werden Sie mit 63 aufhören zu arbeiten oder machen Sie einfach weiter?
MS:
Ich glaube nicht. Ich finde das Modell, sich irgendwann auf die Ersatzbank setzen zu sollen irgendwie komisch. Da geht doch eine Menge Energie verloren, die man eigentlich nutzen könnte, die wir aber als Gesellschaft oft verpuffen lassen, weil jüngere angeblich besser sind.
PV:
Dr. Siemer, vielen Dank für das Gespräch.
 
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