Dr. Gerd B. Achenbach
Philosoph
Dr. Gerd B. Achenbach ist Philosoph und Begründer der Philosophischen Praxis in Deutschland. Sein Verhältnis zur Philosophie ist akkurat ein Liebesverhältnis, das durch andere Philosophen, denen er begegnete, „geweckt” wurde. Dass ihm diese Liebe passiert ist, dafür ist er dankbar.
Zuerst einmal möchte ich erwähnen, dass ich mir Ihre Frage meinerseits in einem etwas anderen Zuschnitt angezogen habe. Statt zu fragen, „worum es im Leben geht”, bevorzuge ich die Wendung, „worauf es ankommt”. Die beiden Wendungen sind zwar einander ähnlich, aber doch nicht „Hose wie Jacke”. Verwandte Wendungen sind etwa: „Was ist wahrhaft wichtig im Leben?” oder: „Was gibt den Ausschlag?” oder: „Was ist letztlich entscheidend?” Was nun aber die Beantwortung solcher Fragen angeht, lege ich Wert auf die Feststellung, dass, was immer man als Antwort darauf anführen mag, grundsätzlich nur in Form eines Bekenntnisses vorgetragen werden kann. Mit andern Worten: Keine denkbare Antwort kann den Anspruch erheben, allgemein gültig und eine für alle verbindliche Wahrheit zu sein. Sondern: Wer auf solche Fragen antwortet, bekennt damit, wer er ist. Der eine sagt, es komme ihm aufs Vergnügen und das Optimum an Lebensfreude an, der andere gesteht, ihm sei vornehmlich daran gelegen, Verdrießlichkeiten zu vermeiden. Ein wieder anderer hegt den stillen Wunsch, jedenfalls das Schlimmste, was das Leben so in petto habe, möge ihm erspart bleiben. In schlichter Version wünscht man sich dann „Gesundheit”, denn ohne die sei alles nichts, wie es heißt. Und? Ist die Version des einen auch für den andern verbindlich? Keineswegs. Aber wir wissen, je nachdem, wie die Antwort ausfällt, mit wem wir es zu tun haben. Redensartig: Wes Geistes Kind er ist.
Nun wollen Sie allerdings eine Antwort von mir. Gut. Ich sage, es kommt alles darauf an, das Leben so zu führen, dass ich ohne allzu großes Erschrecken mir selber in die Augen schauen kann. Was übrigens einer alten Tradition entspricht, die seit Sokrates in der Welt ist. Dessen Empfehlung lautete, sorge dich in erster Linie um dich oder, wie es damals hieß: um deine Seele. Wobei „Seele” fast nichts mit dem zu tun hatte, was heute „Psyche” heißt, sondern es war der Inbegriff dessen, was den inneren, den eigentlichen Menschen ausmacht. Mit andern Worten: Sorge dich, dass du gut wirst. Und dafür ließe sich auch sagen: Sieh zu, dass du dich ‒ unter Anlegung Deiner strengsten Maßstäbe ‒ vor dir selber verantworten kannst.

Ich studierte noch, da kam eines Tages ein ferner Bekannter zu mir und berichtete, seine Tochter, 17, habe versucht, sich ums Leben zu bringen. Es hatte nicht viel gefehlt, und es wäre ihr der Anschlag gelungen. Doch man fand sie eben noch rechtzeitig auf, mit Blaulicht hat man sie ins Hospital gebracht, hat sie ins Leben zurückgeholt und danach, wie gesetzlich vorgeschrieben, wurde sie der Psychiatrie überstellt. Dort aber habe sie jegliche Zusammenarbeit mit dem zuständigen Psychiater verweigert. „Und nun?” „Und nun”, sagte mein Bekannter, „komme ich zu dir, weil ich meine, du solltest mit meiner Tochter reden. Mit den Psychiatern und Psychologen spricht sie nicht. Aber du bist Philosoph, mit dir ist es was anderes.” Das war ein verblüffender Antrag, und man könnte sagen: Da hat dieser ferne Freund, ein Künstler nebenbei bemerkt, in gewissem Sinne die Philosophische Praxis „erfunden”, so wie eine Nachfrage ein Angebot stimuliert.
Was ist passiert? Ich war bereit, zu versuchen, was anderen offenkundig nicht gelang ‒ und es ist gelungen. Also: Das Mädchen kam, wir sprachen miteinander, das ging einige Wochen so, mehrere Stunden am Tag, und ich habe erleben dürfen, dass dieses Gespräch eine außerordentlich hilfreiche Wirkung entfaltete. Inzwischen ‒ die Geschichte ist viele Jahre her, ich meine, es ist 1977 gewesen, 1981 habe ich die Praxis gegründet ‒, inzwischen ist sie schon lange verheiratet und ihre Kinder studieren.
Was war das nun? Ich habe seinerzeit einen Schluß daraus gezogen. Ich habe mir gesagt: Die Philosophie braucht einen Ort, an dem sie Erfahrungen sammeln, an dem sie lernen, dazulernen kann, nicht zuletzt: wo sie aus Fehlern lernen kann. Das hatte ihr, im Gegensatz zu den Wissenschaften, bisher gefehlt: In den Wissenschaften gehen sie mit einer Vermutung ans Werk, kreieren Experimente, mit denen sich die Hypothesen überprüfen lassen, und dann schauen sie nach, ob ihre Annahmen bestätigt werden oder nicht. Das fehlte der Philosophie. Ein Gedanke von C. G. Jung hat mich damals sehr beeindruckt. Der lautete sinngemäß: Es lasse sich „mit einer unzulänglichen Theorie bekanntlich sehr lange aushalten”, man dürfe sie nur nicht anwenden …, denn in der Praxis erfahre man, was damit los ist (oder eben nicht). Das ist es, dachte ich damals, was die Philosophie nötig hat.
Etwas anderes kam hinzu: Fehlte der Philosophie die Praxis, so der Psychologie, die als Psychotherapie ja durchaus Praxiserfahrungen sammelt, eine philosophisch hinlängliche Theorie. Oder sagen wir es so: Was dort, bei den Psychotherapeuten, als Theorie ausgegeben wird, hält einer philosophischen Visitation nicht stand. Den Fehler eigentlich aller an einem problematischen Theorieverständnis leidenden Psychologietraditionen hat der wundervolle Nicolás Gómez Dávila in einem Satz auf den Punkt gebracht: „Jede wissenschaftliche Psychologie ist ihrem Wesen nach falsch, weil sie das als Objekt auffassen will, dessen Natur gerade darin besteht, Subjekt zu sein.” Aus beiden Wahrnehmungen resultierte für mich eine Folgerung: Wir brauchen ein Philosophische Praxis als Alternative zu den Therapien. Soweit in Kurzfassung meine Auskunft „zu den Gründen”, die zur Gründung der Philosophischen Praxis führten.
Die Antwort fällt mir leicht: meine Mutter. Was allerdings nichts Besonderes ist, denn selbst dann, wenn Mütter eine Katastrophe sind ‒ von dieser Sorte gibt es reichlich, wie wir wissen ‒, selbst dann sind sie es vor allem, die uns prägen. Doch dann muss ich sagen: Nahezu ebenso viel hat mich mein Vater geprägt. Diesem Monstrum von Vater gegenüber blieb mir als Sohn die charmante Rolle des permanenten Versagers … Er war in schrecklich vielen Hinsichten einfach gut. Für einen Sohn: Anlass zur Bewunderung, andererseits war’s zum Verzweifeln. Sowas prägt. Ansonsten wurden es immer mehr fernere Gestalten, die mich prägten oder, wie ich jetzt besser sagen sollte: die mir zum Leitbild wurden. Das herausragende Beispiel: Sokrates. Oder dann so ein Denkmonster wie Hegel: Auch er hat mich geprägt, seine Art des dialektischen Denkens, seine beispiellose Fähigkeit, das Denken der Philosophie im Verständnis der alltäglichsten Dinge zu bewähren. Nietzsche schließlich: Sein Pathos und diese bis dahin nie gekannte Freiheit des Denkens, sein Experimentieren mit Perspektiven usw. Das wurde nicht einfach „Vorbild”, wie man sagt, solches Sich-frei-Machen des Geistes, wie wir es sonst nur von Goethe kennen, wurde mir zu eigen. Die haben in mir etwas aufgeschlossen, das niemand mehr zuschließt. Goethe, dieser Koloß souveräner Einsamkeit, wird mich nie zur Ruhe kommen lassen, wobei „Ruhe” hier kein Respektsbegriff ist, sondern das Faulwerden des Geistes meint. Übrigens bin ich überzeugt: Es ist gut, wenn viele uns prägen. Da werden Einseitigkeiten weggeschliffen und Vielfalt entwickelt. Was man Bildung nennen kann.

Kann man. Vor allem aber ist es Bewegung. Ein Beispiel: Im Moment gestatte ich mir wieder einmal die Trance, in die den begeisterungsfähigen Leser ein Mann wie Oswald Spengler versetzt. Hundert Jahre „Untergang des Abendlandes”. Spengler nimmt den empfänglichen Leser gefangen, fesselt ihn, aber ich werde mich hüten, ihm ein Leben lang zu Füßen zu sitzen. Nein: Solche Lektüren sind Schübe, die man hinter sich bringt, die einen stärken, aber nur, wenn man sich aus ihnen wieder befreit. Die Romantik ist das Vorbild: Der Müller, der wandert, zieht ein, zieht wieder aus, zwischendrein das Liebchen verlockt, an Ort und Stelle zu bleiben, doch irgendetwas kommt dazwischen, also heißt es wieder: Abschied nehmen. Mir geht es so. Nicht mit „dem Liebchen” zwar, aber mit Lieblingslektüren beispielsweise. Philosophien sind für mich wie Herbergen, die mir vertraut sind. Ich gehe da ein und aus wie bei Bekannten, aber ich richte mich nicht häuslich ein. Ich kehre ein und ziehe wieder aus, und zwar bereichert. So geht mir’s im Moment mit Spengler, diesem Magier der Sprache. Ich war ‒ als die 68-er vor ihm warnten wie der Christ vorm Gott-sei-bei-Uns ‒ hingerissen von ihm und nun gibt es einmal mehr ein Wiedersehen; man nimmt sich in den Arm, herzt und küsst sich, es ist wundervoll, dann nimmt man dankbar Abschied. Aber eines bleibt: Die Gewißheit, dass die Philosophie unendlich reich ist an Gestalten, eine Fülle von Welten, bunt, vielfältig und voller Widersprüche, die zu denken geben, also stacheln und so das Weiterdenken animieren. Bei alledem ist eines sicher: Es kommt keine Langeweile auf.
Da müssen Sie mir zuerst erlauben, an ihrer Frage ein wenig zu rütteln. Denn was ich anbiete ist keine Berufsausbildung ‒ es ist ein Lehrgang, eine Weiterbildung, im besten, strengsten und anspruchsvollsten Sinn Bildung überhaupt. Das Resultat von Bildung aber ist nicht, dass jemand dann etwas „hat” oder „weiß” oder „beherrscht”, sondern dass er jemand wurde, jemand ist am Ende, einer, dem man vertrauen, auf den man bauen, von dem man lernen kann, einer, der als Mensch überzeugt. Da geht es also nicht darum, Menschen geistiges Handwerks- oder sonstiges Rüstzeug in die Hand zu geben, mit denen sie dann andere beglücken ‒ „behandeln”, „belehren”, „heilen”, „therapieren” ‒, sondern was sie gewinnen, gewinnen für sich selbst, und bevor sie dazu kommen, machen sie etwas durch.
Ich sollte dies ergänzen: Die Frage „wozu Philosophie?” ist seit der Antike, wo sich damals in Griechenland das philosophische Denken auf den Weg gemacht hat, immer so beantwortet worden: Philosophie treibe ich nicht um Spezialist, Fachmann, Experte zu werden ‒ etwa für sogenannte „philosophische Fragen” ‒, sondern um am Ende als Mensch ernstgenommen werden zu können. Es geht darum, sich den Vorzug, Mensch zu sein, zu verdienen. Das ist ein höchst anspruchsvolles Programm, wie die Griechen wussten, weil sie verstanden, das Leben gelingt nicht einfach so, indem man es herunterlebt, sondern es bedarf der Führung, der Lebensführung, es ist, wie ich dies nenne, eine Frage der Lebenskönnerschaft. Und die bedarf der klugen Einsicht, weiser Übersicht und alles dessen, was man einst „Tugenden” nannte: da ist Besonnenheit nötig, Mut erforderlich, ein unwankender Gerechtigkeitssinn, zuletzt, um das steife Wort „Gutsein” zu vermeiden: Güte.
Sofern dies klar ist, darf Ihre Zusatzfrage mit einem nachsichtigen Lächeln quittiert werden … War Ihre Nachfrage nicht, ob man von solchen Menschen „noch welche brauche”? Da möchte ich mit aller Bescheidenheit umgekehrt fragen, ob wir von solchen Menschen wohl jemals genug haben könnten? Die Antwort kann nur lauten: nein.
Aber selbstverständlich weiß ich, Sie wollten mit Ihrer Frage auf etwas anderes hinaus. Sie fragen sich, ob ein so „gebildeter” Mensch in der Welt der Berufe und der Arbeit gebraucht wird? Da begibt sich also jemand drei Jahre lang in einen intensiven, anspruchsvollen, oft wohl sogar überfordernden Lehrgang, er macht was durch, wird in Grenzen unterdessen ein anderer, im Bild gesprochen: er setzt geistig Fleisch an ‒ und dann? Nun, es sind in der Regel wenige, die im strengen oder, sagen wir mal, im expliziten Sinne als philosophische Praktiker zu reüssieren versuchen. Vielmehr machen die Teilnehmer, nachdem sie den Lehrgang absolviert haben, auf sehr bunte und höchst unterschiedliche Weise etwas damit. Sie haben sich Fähigkeiten erworben, die nach und nach immer wichtiger werden in einer Welt, in der gewissermaßen alle „technisch” erwerbbaren Qualifikationen an Algorithmen übergehen und mehr und mehr von Computern übernommen werden. Insofern geht es dem, der sich in der Vielfalt und im Reichtum des philosophischen Denkens umgetan und davon für sich profitiert hat, ähnlich wie dem Juristen, der auf seine bestimmte Art gelernt hat, Sachverhalte nüchtern, sachlich, vorurteilsfrei und analytisch gründlich anzuschauen, der es vor allem nicht nötig hat, wie „alle Welt” zu ticken. Dabei ist die so juristisch erworbene Disziplin des Denkens und Urteilens, so sehr wir sie brauchen in einer zunehmend verhetzten Welt, noch immer eingeschränkt und eine Spezialität im Vergleich zu dem, was ich mir für mich philosophisch erwerbe. Und die These, die ich mir einmal als Prophezeiung erlaube, lautet: In dem Maße, in dem intelligente Maschinen unsere Arbeit übernehmen, in dem Maße werden wir immer mehr Menschen nötig haben, die es verstehen, Mensch und keine Maschine zu sein. Die vor allem begriffen haben, wie hoch gegriffen der Anspruch ist, in wirklich überzeugender Weise Mensch zu sein und nicht ein „Irgendwer”. Ich kann dasselbe auch anders sagen: Was unsere Welt in erster Linie nötig hat, ist nicht Intelligenz, sondern Weisheit.
